„Lerne aus dem Sport für das Leben“ – Ingo Anderbrügge zu Gast in der JVA Kleve
10. September 2019 Zurück zur Artikelübersicht »

Der frühere Bundesligaprofi Ingo Anderbrügge war als Botschafter der Sepp-Herberger-Stiftung in der JVA Kleve zu Gast. Im Interview schildert er seine Eindrücke.

Herr Anderbrügge, wie haben Sie Ihren Besuch in der JVA Kleve erlebt?
Anderbrügge: Zunächst einmal möchte ich sagen, dass ich froh bin, wieder raus zu sein. Die drei Stunden, die ich dort war, waren sehr bedrückend für mich. Aber auch beeindruckend. Auf der Autofahrt nach Hause sind mir unglaublich viele Gedanken durch den Kopf gegangen. Ich war jetzt das dritte Mal in einer JVA. Und es beschäftigt mich immer wieder, das geht nicht spurlos an mir vorbei. Ich kann es gar nicht genau erklären. Aber es fällt mir schwer, mit den Eindrücken klar zu kommen und sie zu verarbeiten.

Bundesligaprofi Ingo Anderbrügge zum dritten Mal in der JVA Kleve zu Gast.

Was wühlt Sie konkret so auf?
Anderbrügge: Ich frage mich immer, wenn ich einem Inhaftierten gegenüberstehe: Was hat er gemacht? Warum ist er hier? Was hat ihn dazu gebracht, bestimmte Dinge zu tun? Bei manchen merkt man deutlich, dass sie ihre Lehren aus der Situation ziehen. Andere nehmen auch die Hilfe im Gefängnis nicht an und benehmen sich den Mitarbeitenden gegenüber unpassend. Was geht bei diesen Menschen im Kopf vor?

Konnten die Häftlinge Ihnen die Fragen beantworten?
Anderbrügge: Nein, ich habe aber auch nicht so genau nachgefragt. Das Leben schreibt hin und wieder seine ganz eigenen Geschichten, die leider nicht immer gut enden. Manchmal kommt man mit anderen Menschen in Kontakt, die möglicherweise einen negativen Einfluss auf dich haben und einen dadurch in Situationen bringen, mit denen man eigentlich gar nichts zu tun haben möchte. Was ich sagen will: Oft wird unser Verhalten durch äußere Einflüsse bestimmt.

Kann in diesen Momenten ein starker Freundeskreis Schlimmeres verhindern?
Anderbrügge: Natürlich. Gute Freunde können verhindern, dass Außenstehende einen schwachen Moment bei mir oder anderen ausnutzen. Man muss den Jungs vermitteln, dass man nur gemeinsam stark ist und seine Ziele erreichen kann. Vielleicht klingt das naiv, aber ich spreche aus eigener Erfahrung. Ich habe beim FC Schalke 04 mit Türken, Niederländern, Tschechen, Griechen, Russen gespielt. Aber wenn um 15.30 Uhr Anstoß war, dann wollten wir gemeinsam für unseren Verein erfolgreich sein. Oft ist es uns gelungen. Wenn einer einen Fehlpass gespielt hat, hat ein anderer die Situation wieder gelöst. Wir sind Vizemeister geworden und haben den UEFA-Cup geholt. Wir waren nicht die besten Freunde. Aber es ging nur, weil wir zusammengehalten haben. Einer allein hätte so etwas nie erreichen können. Der Sport hat mich geprägt.

Anderbrügge: “Ich hatte den Eindruck, dass die Inhaftierten in dieser Zeitihre Probleme verdrängen konnten.”

Kann der Fußball aus Ihrer Sicht also ein Spiegel des Lebens sein?
Anderbrügge: Nicht nur der Fußball. Alle Mannschaftssportarten. Auch im Hockey, Basketball, Handball und vielen weiteren ist Teamgeist oft das Fundament für den Erfolg. Wir können aus dem Sport lernen. Man muss Regeln beachten, man muss sich einordnen, man muss pünktlich sein, man muss Egoismen hintenanstellen. Man muss auch Autoritäten akzeptieren. Wenn der Schiedsrichter pfeift, war es ein Foulspiel. Natürlich kann man anderer Meinung sein, aber dann wird eben mal nicht diskutiert und auf gar keinen Fall wird die Sache mit den Fäusten geklärt. Ich habe versucht, den Inhaftierten ein wichtiges Motto näher zu bringen: Lerne aus dem Sport für das Leben. Sieg und Niederlage führen zu Emotionen und müssen verarbeitet werden. Man spürt auch, dass man einmal mehr aufstehen muss anstatt liegen zu bleiben. Als Sportler gibt man nicht auf – weder nach Niederlagen noch nach Verletzungen. Der Anlass Ihres Besuchs im Dienst der Sepp-Herberger-Stiftung war ein Sportfest in der JVA Kleve.
Anderbrügge: Man hat mal wieder deutlich sehen können, welche Kraft der Sport ausüben kann. Ich hatte den Eindruck, dass die Inhaftierten in dieser Zeit – wenigstens für ein paar Stunden – ihre Probleme verdrängen konnten. Es ist zwingend notwendig, dass Menschen Sport treiben. Es hilft in vielerlei Hinsicht. Gerade die Jungs in der JVA müssen auch körperlich mal an ihre Grenzen kommen, oder sogar darüber hinaus. Sie müssen ihr Adrenalin abbauen. Wir haben das früher auf der Straße gemacht. Wenn ich schulfrei hatte, war ich von morgens bis abends zur Dunkelheit draußen und habe mit meinen Freunden Fußball gespielt. Das war mein Leben. Ich fände es total sinnvoll, wenn sich die Menschen nach ihrer Inhaftierung einem Sportverein anschließen würden. Ich bin davon überzeugt, dass das der beste Weg ist, um sich wieder in der Gesellschaft zu integrieren. Jeder hat eine zweite Chance verdient. Aber die muss dann auch genutzt werden.

Muss der Verein aus Ihrer Sicht bestimmte Voraussetzungen dafür haben?
Anderbrügge: Die Verantwortlichen müssen dahinterstehen und sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst sein. Es reicht nicht, dem neuen Mitspieler, der vorher mehrere Jahre in der JVA verbracht hat, zu sagen, dass dienstags und donnerstags Training ist. Man muss ihn integrieren. Vielleicht müssen sich die Mitspieler auch mal die Lebenswelt anschauen, in der er die vergangenen Jahre gelebt hat. Das fördert das Verständnis füreinander. Eine Justizvollzugsanstalt ist eine ganz andere Welt.

Sepp Herberger war erstmals 1970 in einer JVA. Sie waren jetzt zum dritten Mal dort. Etwas überspitzt gefragt: Warum tun Sie sich das an?
Anderbrügge: Für Sepp Herberger war schon zu Lebzeiten die Resozialisierung ein ganz großes Anliegen. Wenn man einmal dort war, erkennt man sofort die Bedeutung. Bevor ich das erste Mal in einer JVA war, hatte ich keinerlei Berührungspunkte mit der Thematik. Dann hat mich der FC Schalke 04 gefragt, ob ich das machen könnte. Ich musste zunächst eine Nacht darüber schlafen. Aber danach war mir klar, dass ich helfen möchte, wenn ich helfen kann. Als ich bei meiner Premiere vor der JVA Herford stand und dort die Stahltür aufging, musste ich schon zweimal schlucken. Dann kam der Beamte mit den riesigen Schlüsseln. Da wurde mir auch nochmal anders. Wir mussten dann durch zehn oder zwölf Sicherheitstüren gehen, um endlich den Sportplatz zu erreichen. Erst da ist mir das ganze Ausmaß der Situation bewusst geworden.

Sie haben eine Fußballschule, mit der Sie auch viele soziale Projekte verfolgen.
Anderbrügge: Ich habe mein Hobby damit zum zweiten Mal zum Beruf gemacht. Wir haben zunächst klassische Fußballcamps ausgerichtet. Inzwischen ist das nur noch ein Teil unserer Arbeit. Mittlerweile machen wir tatsächlich viele Sozialprojekte – zum Beispiel an Suchtkliniken, in Kinderheimen oder Schulen. Das ist ein wichtiger Teil meines Lebens. Mir geht es nicht darum, aus den Kindern Profis zu machen. Das können die Bundesligisten übernehmen. Mir ist es wichtig, dass Jugendliche in Bewegung kommen und Sport treiben. Aber genauso wichtig ist es mir, dass sie die Werte mitnehmen, für die der Fußball steht. Das ist Prävention fürs Leben. Ich bin davon überzeugt, dass das extrem wichtig ist. Vielleicht bewahrt das sogar den einen oder anderen davor, so großen Mist zu bauen, dass er in den Knast muss. Wenn uns das gelingt, hätten wir ganz, ganz viel erreicht.