30. April 2015 | Zurück zur Artikelübersicht » |
Nur noch zwei Tage, bis der Rasselball wieder rollt. In Chemnitz startet am Samstag (2. Mai) die Blindenfußball-Bundesliga in ihre achte Saison. Gelingt Rekordmeister MTV Stuttgart der sechste Titelgewinn? Diese Entscheidung fällt vielleicht erst am fünften Spieltag im September, wenn die Schwaben auf dem Freiburger Münsterplatz im allerletzten Spiel der Saison auf den zweimaligen Meister Blau-Gelb Marburg (2008, 2012) treffen. Insgesamt neun Teams und Spielgemeinschaften beteiligen sich in diesem Jahr an der europaweit einzigartigen Spielrunde für blinde und sehbehinderte Menschen. Erstmals mit dabei ist der FC Schalke 04, der die bisherige Blindenfußball-Mannschaft des VfB Gelsenkirchen in seine Vereinsstrukturen aufgenommen hat.
Treffen im allerletzten Spiel der Saison auf dem Freiburger Münsterplatz auf den Titelverteidiger: SF/BG Blista Marburg
Das temporeiche, körperlich manchmal harte Spiel kann fesseln. Zehntausende Zuschauer fasziniert die Action, wenn die Blindenfußballer auf dem 40 mal 20 Meter großen mit Banden umsäumten Kunstrasen mitten in den Innenstädten spielen. Im August unterbricht die mit Spannung erwartete Europameisterschaft im Blindenfußball den Bundesliga-Spielplan. Gelingt im westenglischen Hereford der erhoffte Finaleinzug, hätte sich die deutsche Nationalmannschaft für die Paralympics in Rio 2016 qualifiziert.
Das Spielniveau steigt, die Beliebtheit wächst, ganz sorgenfrei ist der Blindenfußball dennoch nicht. Denn nach wie vor fällt es schwer, neue talentierte Spieler für die Liga zu finden.
Stuttgart will Titel verteidigen
„Natürlich ist die Titelverteidigung unser Ziel“, sagt der 30-jährige Kapitän der Stuttgarter, Alexander Fangmann, der auch die deutsche Kapitänsbinde trägt. „Jetzt im EM-Jahr gilt es noch viel mehr, die Konzentration in jedem Spiel bis zum Abpfiff hochzuhalten, um so auch die nötige Spielpraxis und Wettkampfhärte zu sammeln.“ Der Rumpf der Nationalmannschaft ist seit Jahren unverändert: Neben Fangmann sind dies der aus Eritrea stammende Mulgheta Russom, Lukas Smirek und der torgefährliche Vedat Sarikaya. Alle vier sind Topspieler der Liga, alle vier seit Jahren Spieler der Nationalmannschaft, die in Personalunion vom Stuttgarter Trainer Ulrich Pfisterer trainiert wird.
Doch der aus Eritrea stammende spindeldürre Russom zog sich im letzten Jahr bei der WM in Japan einen Adduktorenabriss zu, und Sarikaya stand bereits seit vergangenem August nicht mehr auf dem Platz. Noch bleibt Titelverteidiger Stuttgart Zeit, in Form zu kommen, steigt man doch erst am 2. Spieltag, der im Rahmen der „Fußballiade“ des Bayerischen Fußball-Verbandes am 6. Juni in Landshut ausgetragen wird, in die Saison ein. Nach einem ersten Testspiel im April gegen Marburg wählte Pfisterer jedenfalls ein wenig schmeichelhaftes Adjektiv für seine Stammkräfte: „eingerostet“.
Marburg hofft auf die Überraschung – Chemnitz mit Ambitionen
Zwei Saisons sind schon wieder vergangen, seit Blau-Gelb Marburg den Stuttgartern letztmals die Meisterschale wegschnappen konnte. Wie Pfisterer fürchtet auch Marburgs Trainer Peter Gößmann einen Fehlstart. Der erfahrene Abwehrspieler Robert Warzecha, 2012 als „Bester Spieler der Saison“ ausgezeichnet, fällt längerfristig mit einer Verletzung aus, und Stürmer Taime Kuttig muss nach einem Kreuzbandriss erstmal wieder in Tritt kommen. Gerade beim Blindenfußball dauert es, bis ein Spieler wieder furchtlos dem Ball hinterherrennt. Gößmann sagt: „Wir hoffen dennoch, immer mit einer schlagkräftigen Mannschaft auflaufen zu können. Und wenn wir bis in den September ungeschlagen bleiben, wer weiß, was dann möglich ist.“ Noch zwei Marburger Notizen: Torwart Niclas Schubert wechselt ins Feld und Julia Hartmann ist die erste Frau im Team. Damit werden 2015 insgesamt drei Frauen in der Liga spielen – neben Hartmann noch Katja Löffler vom FC St. Pauli und Jana Schlegel vom Chemnitzer FC.
Apropos Chemnitz: Die Chemnitzer etablierten sich vergangene Saison als dritte Kraft im deutschen Blindenfußball. Genau dort stand man in der Abschlusstabelle. Sieben Turniere hat der Klub seit 2011 veranstaltet, Sachsen wurde zu einer Hochburg der immer noch jungen Sportart. Im Herbst holte man sich dann noch den Titel beim „Keep your mind open“-Hallenturnier des FC St. Pauli. Als kleine Anerkennung für so viel Können und Fleiß, findet der Saisonstart nun am 2. und 3. Mai im Chemnitzer Forum statt. Trainer Michael Falb verspricht: „Wir werden weiter für die ein oder andere Überraschung sorgen.“
Schwarz-Gelb gegen Königsblau – das Derby überhaupt in der Bundesliga. Ein Ruhrpott-Derby hat auch Europas einzige nationale Wettbewerbsserie für blinde Fußballer zu bieten, und zwar immer wenn die Blindenfußballer aus Gelsenkirchen und des ISC Viktoria Dortmund aufeinandertreffen. Die Gelsenkirchener rund um Nationalspieler Bayram Dogan beendeten die Saison 2014 als Tabellenvierter, Dortmund, angeführt von Spielertrainer Hasan Caglikalp, als Tabellensiebter. Die Gelsenkirchener sind für die neue Saison besonders motiviert, denn sie haben sich kürzlich als Abteilung dem FC Schalke 04 angeschlossen.
Auch andere Profiklubs haben den Blindenfußball entdeckt. Dazu gehört auch der SV Werder Bremen; seit zwei Jahren ist eine Trainingsgruppe mit Kindern und Jugendlichen im Aufbau. Die Blindenfußballer von Eintracht Braunschweig starten in der DBFL in einer Spielgemeinschaft mit Berlin und belegten vergangene Saison den sechsten Rang. Und auch der Kultklub vom Kiez ist seit dem Ligastart 2008 dabei. Unmittelbar nach einem ersten Workshop in Berlin im WM-Sommer 2006 gründeten Katja und Michael Löffler die neue Abteilung des FC St. Pauli. Für St. Paulis Trainer Wolf Schmidt ist Blindenfußball ohnehin „die anspruchsvollste Art des Fußballs“. Der Totenkopf auf schwarzen Sweatshirts gehört jedenfalls fest zu einem Spieltag der Liga, die man vergangene Saison mit einem starken fünften Platz abschloss.
Bleiben der PSV Köln und der VSV Würzburg, die 2015 den achten und neunten Tabellenplatz belegten. Seit Jahren bester Akteur bei den Kölnern ist der Stürmer Michael Wahl, bei den Würzburgern ragen Enrico Göbel und Sebastian Schäfer heraus.
Die Jagd nach der Trophäe kann also beginnen. Einig sind sich alle Konkurrenten, dass Blindenfußball in der öffentlichen Wahrnehmung dank der Liga und den Städte-Spieltagen einen enormen Sprung gemacht hat. Mindestens noch bis in den Sommer 2016 wird die DFB-Stiftung Sepp Herberger gemeinsam mit dem Deutschen Behindertensportverband und dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband die Liga ausrichten, die Aktiven hoffen auf eine Vertragsverlängerung.
Nationaltrainer Pfisterer: „Unsere Sportart ist eine Mischung aus Fußball und Eishockey!“
10.000 Zuschauer verfolgten vergangene Saison die Spieltage, alle großen TV-Sender zeigten bereits Features. Peter Gößmann urteilt: „Die Ausstattung der Spielorte und auch der Service vor Ort haben sich enorm verbessert, es ist noch mehr Professionalität im Umgang mit der Liga eingekehrt. Vor allem die Städte-Spieltage wurden gut beworben, dadurch finden wir für den Blindenfußball einen regen Zuspruch.“
Problematisch bleibt die Suche nach neuen jungen Spielern, was eng mit dem Krankheitsbild Blindheit zusammenhängt. Rund 155.000 blinde und etwa eine halbe Million sehbehinderte Menschen leben in Deutschland. Da fast 70 Prozent aufgrund einer altersbedingten Erkrankung wie dem Grauen Star oder Diabetes erblinden, ist das Rekrutierungsfeld eng abgesteckt. Blindenfußball ist keine Seniorensportart. Die Angst Angehöriger vor der Härte des Spiels erschwert die Suche nach neuen Spielern noch mehr.
Pfisterer beschreibt das Spiel als eine Mischung aus Fußball und Eishockey, nur eben mit verbundenen Augen. „Zuallererst“, meint der Nationaltrainer, „muss ein Blindenfußballer über die Fähigkeit verfügen, sich im freien Raum zu bewegen.“ Das ist – ohne etwas zu sehen – keine leichte Aufgabe – probieren Sie es mal! Und der langjährige Bundesligaspieler Sven Schwarze sagt: „Es gibt Spieler, die nach einer heftigen Kollision erstmal nicht mehr rennen und dann ganz aufhören. Man muss das wegstecken können.“ Russom hat es so formuliert: „Man muss ein bisschen einen Knall haben.“
Mehr Spieler aber wären nötig, um weitere Mannschaften anzumelden und die Liga weiter aufzustocken. Deutschlands Kapitän Alexander Fangmann sagt: „Leider ist die einfache Runde mit bloß acht Spielen eine sehr dünne Basis. Wenn die Spielpause doppelt so lange dauert, wie die eigentliche Saison, hat man als Spieler kaum die Chance, sich markant zu verbessern.“
Ungeduldig hofft Fangmann auf eine Fortsetzung des Booms im Blindenfußball. Volle Tribünen bei den Städte-Spieltagen in Landshut und Freiburg und die Qualifikation für Rio wären dafür wichtige Meilensteine.
Teams 2015
MTV Stuttgart 1843 (Titelverteidiger) – SF/BG Blista Marburg – Chemnitzer FC – FC Schalke 04 – FC St. Pauli von 1910 – SG Eintracht Braunschweig/Viktoria 89 Berlin – ISC Viktoria Dortmund-Kirchderne – PSV Köln – BFW/VSV Würzburg
Die Partien des 1. Spieltags im Sportforum Chemnitz
(Reichenhainer Str. 154, 09125 Chemnitz)
Samstag, 2. Mai 2015
09.00 Uhr SG Eintracht Braunschweig/Viktoria 89 Berlin – BFW/VSV Würzburg
11.00 Uhr FC Schalke 04 – PSV Köln
13.00 Uhr SF/BG Blista Marburg – ISC Viktoria Dortmund-Kirchderne
15.00 Uhr FC Schalke 04 – BFW/VSV Würzburg
17.00 Uhr Chemnitzer FC – FC St. Pauli von 1910
Sonntag, 3. Mai 2015
09.00 Uhr ISC Viktoria Dortmund-Kirchderne – PSV Köln
11.00 Uhr SF/BG Blista Marburg – FC St. Pauli von 1910
13.00 Uhr SG Eintracht Braunschweig/Viktoria 89 Berlin – Chemnitzer FC
Die weiteren Spieltage 2015 finden in Landshut (6. Juni), Dortmund (18./19. Juli), Düren (15./16. August) und Freiburg (12. September) statt.
Weitere Informationen unter www.blindenfussball.de