Sepp Herberger: “Der Ball ist unser Dolmetscher …”
27. April 2012 Zurück zur Artikelübersicht »

Am 28. April 1977 starb Sepp Herberger in seiner Heimatstadt Mannheim. Was ist von ihm geblieben? Dr. Alexandra Hildebrandt, Nachhaltigkeits-Beauftragte in der DFB-Kommission für Nachhaltigkeit, berichtet über Herbergers Lebenswerk und darüber, warum der “Chef” nicht nur wegen seiner Sprüche noch heute (nachhaltig) aktuell ist.

Nachhaltigkeit ist in der Welt des Fußballs nicht unbedingt ein gängiger Begriff – aber das, was er beinhaltet, wird und wurde von vielen selbstverständlich gelebt. An der Person Sepp Herbergers, eine der größten Persönlichkeiten in der Geschichte des deutschen Fußballs, zeigen sich Gesicht und Seele der Nachhaltigkeit, denn ohne diese menschlichen Züge ist ein solches Thema nicht vermittelbar. Binnen weniger Jahre wurde aus einem “gewachsenen” Begriff ein abgeschlagenes Allerweltswort. Auf die gängigen Definitionen verzichte ich an dieser Stelle und verweise lediglich auf den fast 300 Jahre alten Leitterminus des deutschen Forstwesens, der die Verpflichtung bezeichnet, Reserven für künftige Generationen “nachzuhalten”, also nicht mehr Holz zu fällen als nachwächst.
Wolfgang Watzke, Geschäftsführer der DFB-Stiftung Sepp Herberger und Mitglied der DFB-Kommission Nachhaltigkeit, zitierte kürzlich den Weltmeister von 1954, der am 28. März 2012 seinen 115. Geburtstag gefeiert hätte: “Der Ball ist unser Dolmetscher.” Der Satz steht freilich in einem anderen Zusammenhang und bezieht sich auf die damaligen Spiele der Nationalmannschaft im Ausland – dennoch lässt er sich im “übertragenen” Sinn verwenden, denn auch ein Thema wie Nachhaltigkeit braucht eine Übersetzung auf Augenhöhe. Der Vorstand der Sepp-Herberger-Stiftung beschäftigt sich zu recht mit der Frage, warum es sich lohnt, sich mit dem Fußballidol heute auseinanderzusetzen: Regierungen tendieren dazu, in Wahlperioden zu denken und in der Wirtschaft orientiert man sich zunehmend an Quartalsberichten. Eine langfristige Ausrichtung ist in vielen gesellschaftlichen Bereichen nur eingeschränkt vorhanden.
Herberger sorgte vor und dachte nach
Vor diesem Hintergrund kann ein Blick auf Sepp Herbergers Leben dazu beitragen, sich intensiver mit “Nachhaltigkeit” zu beschäftigen und es zu einem persönlichen Anliegen zu machen. Im Sinne der Nachhaltigkeit sorgte er nämlich vor und dachte nach. Er war, so sein Biograph Jürgen Leinemann, “listig, schlau, opportunistisch, giftig, bockbeinig. Mal brauste er auf, mal passte er sich an, und manchmal entzog er sich auch durch Schweigen. Er lächelte. Er zürnte. Er redete seine Umwelt schwindelig. Aber nie verlor er seine Ziele aus den Augen. Immer blieb er am Ball …” Und darum geht es ja in allen Bereichen des Lebens.

Anlässlich des Ehrentages und der Gründung der Sepp-Herberger-Stiftung  vor 35 Jahren wurde an das Fußballidol im Musensaal des Rosengartens in Mannheim erinnert. DFB-Präsident Wolfgang Niersbach eröffnete die Veranstaltung mit den Worten: “Das, was der DFB heute darstellt, geht ganz wesentlich auf den Erfolg bei der WM 1954 zurück. Der Anteil von Sepp Herberger daran war herausragend.” Niersbach hob ebenso Herbergers Rolle bei der Gründung der Bundesliga hervor: Er habe das Projekt entscheidend vorangebracht. “Auch in Bezug auf das gesellschaftliche Engagement des DFB hat Herberger Pionierarbeit geleistet.”

Das Selbstverständnis des DFB-Präsidenten enthält vieles, was  Herberger noch immer  verkörpert. So galt er zuweilen als ein zutiefst “altmodischer” Mensch und war andererseits seiner Zeit weit voraus. Er konnte sogar schneller und gewitzter mit Veränderungen umgehen als etliche seiner jüngeren und zum Teil sogar besser ausgebildeten Kollegen. Zudem wusste er, wie Macht und Netzwerke funktionieren – und er war ein kluger Stratege, wenn es um den Fußball und seine Arbeit ging: “Ich habe immer dafür gesorgt, dass ich mit allen gut zurechtkam. Aber ich habe auch darauf geachtet, dass nicht jeder mit mir gut zurechtkam.” Ein echter Charakter, der das Laute und Extreme stets gemieden und auch nie gebraucht hat.
In seiner Antrittsrede am 2. März 2012 in Frankfurt hat Wolfgang Niersbach zwar nicht direkt Bezug auf Herberger genommen, aber er hat ihn sicher auch gemeint, wenn er betonte, dass der DFB keine Revolution braucht, sondern eine Weiterentwicklung in allen Bereichen: eine “Evolution”. Dabei war es für den neuen Präsidenten kein Widerspruch, auch Attribute wie “konservativ, kreativ und innovativ” zu verbinden. Er bekannte sich sogar dazu, konservativ zu sein, nämlich im  wahrsten Sinne des Wortes (conservare). Es geht um das Bewahren traditioneller und zeitloser Werte innerhalb des Systems Fußball: “Bei mir ist die Überschrift Evolution, Weiterentwicklung, Wachsein, Beobachten, wohin der Ball läuft. Und an den ersten Platz stelle ich die Einheit des Fußballs. Es ist die Einheit von Spitze und Breite, von Profis und Amateuren.” Hier zeigt sich, dass es nicht wichtig ist, den Nachhaltigkeitsbegriff weiter zu strapazieren, wenn es gelingt, seinen eigentlichen Inhalt beispielhaft sichtbar zu machen. Evolutionäre Prozesse gedeihen durch zugrunde liegende Strukturen, die sich selbst verstärken. Veränderung aus sich heraus ziehen weitere Veränderungen nach sich zieht und  führen zu einem sich selbst verstärkenden Wachstum. Auch wenn ersten Veränderungen klein beginnen, so werden sie mit der Zeit doch immer substanzieller.
Der Begriff Nachhaltigkeit ist also nicht verbraucht, denn er enthält alles, worauf es auch in der Fußballwelt ankommt. Allerdings spielt sich das Thema nicht zwischen zwei Buchdeckeln ab, sondern auf dem Spielfeld und zwischen zwei Ohren – nämlich in den Köpfen leidenschaftlicher Macher, für die Nachhaltigkeit kein Projekt ist, sondern ein evolutionärer Prozess.
Herberger: “Ein Fossil an Prinzipientreue und Disziplin”
Sepp Herberger war ein solcher Mensch, und die Erinnerung an ihn zeigt, wie modern er war. Sein Leben wird von verschiedenen Generationen anders gesehen und interpretiert. Aber allein mit dem Blick auf die Vergangenheit ist es nicht getan. Gab doch schon Goethe zu bedenken, dass – wer sich nur mit der Vergangenheit beschäftigt – zuletzt in Gefahr kommt “das Entschlafene” vertrocknet an sein Herz zu schließen. Von Sepp Herberger gehen Impulse aus, die damals wie heute von großer Tragweite und Aktualität sind. Der Journalist Jürgen Leinemann nannte ihn “ein Fossil an Prinzipientreue und Disziplin, ein Ausbund aller preußischen Tugenden”. Wie nur wenige verkörperte er auch das Leitbild des Ehrbaren Kaufmanns, das Unternehmer seit dem frühen Mittelalter zu nachhaltigem Handeln bewegt hat. Zum Ethos dieser Menschen gehören typische deutsche Tugenden wie harte Arbeit und Disziplin, Verlässlichkeit, sozial verantwortliches Handeln und Augenmaß: “Allein der Charakter des einzelnen entscheidet. Es kann einer Millionen verdienen und nicht genug damit haben. Nein, das Geld spielt eine untergeordnete Rolle, wenn einer ein wirklicher Kerl ist. Und in der National-Elf dürfen eben nur wirkliche Kerle stehen.” Im Fußball wird heute das Leitbild des Ehrbaren Kaufmanns immer dann aufgegriffen, wenn es um die Vermittlung von Werten geht: faires Verhandeln, Anstand, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Verantwortung.
Was nachhaltig in kollektiver Erinnerung bleibt, ist nicht nur seine bodenständige, pragmatische und liebenswürdige Persönlichkeit, sondern auch Erkenntnisse, die sich auf das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben neben dem Spielfeld übertragen lassen: dass Aufsteigen leichter ist als oben bleiben, dass die Qualität der einzelnen Spieler jedem noch so ausgeklügelten System vorzuziehen ist, dass sich erst nach etwa zehn oder zwölf Spielen herausstellt, ob jemand für die Nationalmannschaft wirklich taugt oder nicht, dass ein Trainer keine Befehle erteilen sollte, sondern die Spieler von der Richtigkeit des vorgezeichneten Weges zu überzeugen hat, dass für den einen nicht passen muss, was für den anderen gut ist und schließlich: gelassen im Sieg und unberührt in der Niederlage zu bleiben.
Das “Wunder von Bern” als Karriere-Höhepunkt

Es gab für ihn keine Trennung zwischen dem Spielfeld und dem Leben außerhalb des Platzes. In den 1920er Jahren war Herberger für die Vereine SV Waldhof und VfR Mannheim sowie Tennis Borussia Berlin aktiv und wurde für zahlreiche Auswahl- sowie drei Länderspiele berufen. Von 1936 bis 1964 war er als Reichs- beziehungsweise Bundestrainer verantwortlich für die Deutsche Fußball-Nationalmannschaft. Höhepunkt seiner Karriere war der Titelgewinn bei der Weltmeisterschaft 1954, deren Endspiel als “Wunder von Bern” in die Fußballgeschichte einging. Am Spielfeldrand war er so konzentriert, bis er vor Erschöpfung grau wurde – auch ein Zeichen dafür, dass Verantwortung tragen für ihn bedeutete, bis an die eigene Substanz zu gehen und mit jeder Faser ganz bei der Sache zu sein.
Dem unberechenbaren Glück hat er nie getraut, denn die Welt um ihn herum geriet zu oft aus den Fugen – doch den Unwägbarkeiten des Lebens setzte er eine eigene Ordnung, Präzision und Stabilität entgegen, die auch dann hielt, wenn alles andere nicht mehr hielt. Die Mannschaft als moralische Instanz gab ihm dabei Halt. Da er innerlich gefestigt war, konnten ihn äußere Veränderungen nicht (mehr) schrecken. Vielmehr reizten sie seine “planerische Phantasie” und sein taktisches Vorgehen.  Der grüne Rasen blieb seine wahre Heimat und gab ihm jene Bodennähe, die ihn niemals abheben ließ.
Die Erinnerung an ihn bleibt durch die Sepp-Herberger-Stiftung, die älteste deutsche Fußballstiftung, lebendig. Sie engagiert sich in vier Tätigkeitsbereichen (Behindertenfußball, Resozialisierung, Schulen und Vereinen sowie dem DFB-Sozialwerk) und ist davon überzeugt, dass die humane und dauerhaft wiedererkennbare “Marke” Sepp Herberger mehr ist als ein historisches Zeugnis, nämlich ein leuchtendes Signal unserer (Fußball-)Kultur. In dieser Tradition arbeitet auch Michael Herberger, Großneffe des Weltmeistertrainers und Produzent der Söhne Mannheims, ehrenamtlich für seine Stadt Mannheim. Neben seiner Tätigkeit im Kuratorium der Sepp-Herberger-Stiftung kümmert er sich gemeinsam mit Xavier Naidoo und den “Söhnen” um sein Projekt “Aufwind Mannheim e.V.” gegen Kinderarmut in seiner Stadt. Gemeinsam mit dem stellvertretenden Geschäftsführer der Sepp-Herberger-Stiftung, Tobias Wrzesinski, setzt er sich für gelungenes bürgerschaftliches Engagement ein. Sepp Herberger hat die Zukunft weise vorweggenommen, was ihn zu einer Legende der Nachhaltigkeit werden ließ.